Prof. Dr. med. David Klemperer

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"Rationierungen und Rosskuren", Reformvorschläge zur Zukunft der Gesundheitsversorgung. Tschechisch-deutsches Dialogforum.

Katholische Arbeitnehmerbewegung, Windischeschenbach, 11.10.2003.

 

Woran krankt das Gesundheitssystem in Deutschland?

Diagnose No. 0

Das Gesundheitssystem ist mittel schwer krank. Im Vordergrund stehen Finanzierungs- und Qualitätsprobleme.

Die gesunden Anteile dürfen dabei nicht übersehen und schon gar nicht zerstört. Eine soziale und solidarische Krankenversicherung ist auch nach >100 Jahren nicht etwa veraltet und überkommen sondern hochmodern. Diese Form gesundheitlicher und sozialer Absicherung bewirkt sozialen Ausgleich und fördert sozialen Zusammenhalt.

Diagnose No. 1
falsche Diagnosen seit >1/4. Jahrhundert

Die von der Politik seit Mitte der 70er Jahre diagnostizierte Krankheit "Kostenexplosion" ist ein Hirngespinst. Falsche Diagnose führt zu falscher Behandlung: das Gesundheitswesen ist daher über 25 Jahre falsch behandelt worden. Gemessen an er wirtschaftliche Entwicklung und am gesellschaftlichen Wohlstand (Maßstab Bruttosozialprodukt oder Bruttoinlandsprodukt) ist seit Mitte der 70er Anfang der 80er Jahre kein bzw. nur ein geringer Anteil der Ausgaben für Gesundheit zu verzeichnen.

Diagnose No. 2
Über-, Unter- und Fehlversorgung

In der medizinischen Versorgung werden in großem Umfang Behandlungen durchgeführt, die unwirksam sind (invasive Maßnahmen nach abgelaufenem Herzinfarkt) oder mit lediglich geringer Wahrscheinlichkeit eines Nutzens für den oder die Einzelne einhergehen, ohne dass die Betroffenen darüber informiert würden (Brustkrebsfrüherkennung durch Mammographie). Auf der anderen Seite werden den Patienten Behandlungen von erwiesenem Nutzen weitgehend vorenthalten (Schmerztherapie bei Krebs). Viele weitere Beispiele im Gutachten 200/2001 des Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, aber auch schon im meinem Aufsatz asu dem Jahr 1996 "Qualität in der Medizin - Der patientenzentrierte Qualitätsbegriff und seine Implikationen" (Download: http://www.klemperer.com/publikationen.html)

Diagnose No. 3
Sicherheit

Nicht alle Ärzte sind einsame Spitze. Die Qualität entspricht einer Normalverteilung, wobei etwa 90% der Ärzte im "sicheren Bereich" liegen. Verfahren müssen entwickelt und etabliert werden, um die Qualität insgesamt weiter zu verbessern (Verschiebung und Verengung der Normalverteilung) und um die schlechten und gefährlichen Ärzte zu erkennen und Ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Defizite zu korrigieren. Die Pflicht zur Fortbildung ist für diese Zwecke unzureichend.

Diagnose No. 4
Arzt-Patient-Kommunikation

Die Arzt-Patient-Kommunikation entspricht häufig nicht den Wünschen und Bedürfnissen der Patienten. Die meisten Patienten möchten in mehr oder weniger großem Ausmaß in die Entscheidung für (oder gegen) eine Behandlung einbezogen werden. Eine solchermaßen gelungene Kommunikation verbessert das Wohlbefinden der Patienten, die Behandlungsergebnisse und die Arbeitszufriedenheit der Ärzte. Vertiefung: http://www.klemperer.com/publikationen.html

Diagnose No. 5
Gesundheit ist mehr als Medizin  - die Chancen von Public Health

Verhalten, das zu Krankheiten führt, ist gesellschaftlich beeinflussbar. Der Kondomgebrauch ist durch die HIV/AIDS-Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gesteigert worden. Mit vergleichbaren Konzepten und Kampagnen ließen sich Tabakkonsum, Ernährungsverhalten und Freizeitverhalten positiv beeinflussen. Diese Chancen sollten künftig mit Entschiedenheit genutzt werden.

Diagnose No. 6
Medizinisch-industrieller Komplex

Das Medizinsystem befindet sich in einer unangemessenen Nähe zu den Interessen der pharmazeutischen Industrie. Die vielfachen Abhängigkeiten insbesondere finanzieller Art führen zu schlechter medizinischer Qualität. Das Desaster der Hormon"ersatz"therapie hat dies erneut drastisch aufgezeigt. Die Selbstverwaltung des ärztlichen Berufsstandes, die Ärztekammern, sind mit der Lösung dieses Problems und anderer Probleme (z.B. Diagnose 3) überfordert, solange die Gremien nicht mit einem relevanten Anteil von Vertretern der Öffentlichkeit besetzt sind.